«Giants in Motion» – «Giganten in Bewegung»
- Juni 17, 2020
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Eine fotografische Liebeserklärung an den Gletscher oder ein stummer Hilfeschrei?
Eine vom Leben zerfurchte Oberfläche. Tiefe Risse wie klaffende Wunden. Rau und doch gleichzeitig voller Schönheit im Detail. Dann wird es plötzlich konkret. Nach der grafisch-abstrakten Dramatik zeigt David Carlier mit seiner Fassung klassischer Berg-Fotografie: Wir sind am Aletschgletscher. Faszination, UNESCO Welterbe, grösster Gletscher der Alpen, eine Majestät der Bergwelt – und ein Eisriese, der wie alle anderen Alpen-Gletscher bis zum Ende des Jahrhunderts wahrscheinlich nur noch Geschichte sein wird.
Es sind Motive, die an ein durchfurchtes, vom Leben gezeichnetes Leder erinnern. An glatte, tiefe Schnittwunden. An eine schwarz-weisse Interpretation des Munchsen Schreis oder von Mozarts Requiem. Erheiternd ist anders. Dann wird es plötzlich konkret: Nach der graphisch-abstrakten Dramatik zeigt uns David Carlier mit seiner Fassung klassischer Berg-Fotografie: Wir sind am Aletschgletscher – dem längsten Eisstrom der Alpen. Diesen hat der Schweizer Fotograf über Jahre dokumentiert. Von nah und fern, in gewaltigen, wuchtigen Bildern, zeigt er den sterbenden Giganten in grossem Format. Seine Aufnahmen sollen eine Liebeserklärung an den Gletscher sein, von dessen Schönheit, seiner Unermesslichkeit und unbändigen Kraft erzählen. Von dessen Verletzlichkeit, Erschöpfung, Verzweiflung – und am Ende der Kapitulation. Carlier möchte, dass wenigstens die Bilder bleiben, wenn der Gletscher einmal nicht mehr ist. Im Sommer sind sie in der Aletsch Arena zu sehen – in der mystischen Atmosphäre eines alten Entwässerungsstollens.
„Gletscher sind immer in Bewegung, das ist normal – doch mehr und mehr bestürzt mich ihr Zustand“, sagt David Carlier. Der Fotograf und Filmemacher, der in Genf geboren wurde und heute in einem kleinen Walliser Dorf lebt, war schon als Jugendlicher fasziniert von diesen unermesslichen Eismassen. Damals begann der heute 47-jährige Abenteurer, die vielen Gesichter der Eisriesen zu dokumentieren, die sich – nicht nur wegen der Klimaerhitzung – ständig wandeln. Es sind die natürlichen Bewegungen des Eises, die Veränderungen im Lauf der Jahreszeiten, die David fesseln. Und es ist der ständige Rückzug des Eises, der ihn zunächst wütend machte, ihn heute jedoch eher fatalistisch stimmt, wie er sagt.
Vor drei Jahren beschloss er dann, die Gletscher seiner Heimat für die Nachwelt festzuhalten. Er begann, sie noch häufiger zu besuchen, um seine Werke aus früheren Jahren zu ergänzen. In seinem Projekt „Giants in Motion“ – „Giganten in Bewegung“ möchte er ihre Schönheit, ihre Unermesslichkeit und ihre Verletzlichkeit zeigen.
Dabei ist er sowohl zu Fuss als auch mit seinem Ecolight-Flugzeug unterwegs. Mit dem Flugzeug zum sterbenden Gletscher?, fragt man sich etwas bange. „Es braucht nur sieben Liter Bleifrei auf hundert Kilometer“, sagt David. Zudem sei der Rückweg fast CO2-neutral zu machen: „Wenn ich auf etwas über viertausend Metern den Motor ausschalte, komme ich bis nach Hause.“
Oft fotografiert David aber auch 100 Prozent klimafreundlich – vom Gleitschirm aus, hoch über dem Gletscher. Unter ihm liegt dann der Grosse Aletschgletscher in all seiner Schönheit, Unermesslichkeit und Verletzlichkeit: Diese drei Schlagwörter lassen sich den einzelnen Bildern des Projekts zuordnen – und sie lassen quer durch das Werk Brüche entstehen: Wir sehen Bilder – wenn auch wenige –, die an diesen grossartigen Tagen in den Bergen entstehen, an denen man eigentlich jodeln möchte: Die Sonne gibt alles, Jacken und Handschuhe müssen in den Rucksack, überall gurgelt und gluckert das Schmelzwasser, das Seil schleift nass zwischen den Tourengehern über das Eis, und man süchtelt förmlich nach der eiskalten Rivella auf der Hüttenterrasse. Das alles sieht man nicht, doch so würde sich das Bild anfühlen – wäre David Carliers blauer Himmel nicht grau, denn er zeigt die Schönheit meist schwarzweiss. „Bei Schwarzweiss-Bildern hat die Phantasie mehr zu tun als in Farbe“, findet David. „Es ist wie der Unterschied zwischen einem Hörspiel und einem Film.“
Die Unermesslichkeit, seine zweite Überschrift, taucht in eindrücklichen abstrakten Aufnahmen auf, die keinen Anfang und kein Ende haben, die Ausschnitte von unbekannter Grösse zeigen und dennoch ein Gefühl von Weite vermitteln. Es sind helle Bilder, der Gletscher ist hier meist Schnee bedeckt, teilweise könnte es auch Sand sein, man sieht Verwehungen, Dünen. Und der körnige Look fällt auf: „Ich mag die überscharfen, super kontrastreichen Bilder der neuen Kameras nicht“, sagt David. „Ich empfinde sie als seelenlos, ich mag es eher körnig, dass es anmutet wie auf Film“. Deshalb verwendet er ausschliesslich ältere Digitalkameras. „Wenn ich etwa oben am Bettmerhorn in der Aletsch Arena fotografiere, nehme ich meine schwere Leica S“, erklärt er. „Die hat eine riesige Spannweite zwischen hell und dunkel: Man sieht die Steinbrocken in der dunklen Gletscherspalte, und trotzdem hat die Helligkeit des Schnees noch richtig Struktur. Wenn ich mich viel zu Fuss auf dem Gletscher bewege, habe ich eine ganz leichte Sony, aber am allermeisten verwende ich eine 15 Jahre alte Nikon D 800. Die habe ich schon mal in einer Lawine verloren – und wieder ausgegraben“, erinnert sich der Fotograf.
Wie eine Lawine stürzt auch die dritte Kategorie von Bildern auf den Betrachter ein: Erschütternd und brutal wirken die düsteren Aufnahmen des aperen, erschöpften und verletzlichen Gletschers, den man ebenfalls nur in Ausschnitten sieht. Rissig, rau und totenstill kommt er daher. Auch hier ist die Dimension ein Rätsel – es könnten ein paar Meter oder auch mehrere Kilometer sein, die David hier verewigt. Und auch hier arbeitet er fast ausschliesslich schwarzweiss: „Die Strukturen werden dadurch viel besser sichtbar – und an einem düsteren, bewölkten Tag entstehen in Schwarzweiss sehr dramatische Bilder“, sagt er. „Ich versuche bei diesen Bildern auch, das Auge für die Leute zu sein, die nicht so geübt im Schauen sind. Ich war schon mit Menschen unterwegs, die anschliessend meinten, dort wären sie noch nie gewesen, als sie die Bilder sahen“, berichtet David, der die Gletscher so häufig besucht, dass er sicher ist, sie anhand eines Fotos unterscheiden zu können. Ein Ausschnitt von 100 mal 100 Metern würde ihm dafür genügen, meint er. „Gletscher haben verschiedene Farben, unterschiedliche Kurven – ich würde fast sagen, jeder hat eine eigene Persönlichkeit. Auch Zwillinge kann man schliesslich irgendwann unterscheiden, wenn man sie gut genug kennt…“
Für jemanden, der die Gletscher so gut kennt, muss die Prognose von Forschern, nach der Ende des Jahrhunderts fast alle Schweizer Gletscher verschwunden sein werden, besonders schmerzlich sein. David, der sich selbst einmal als „desillusionierten Öko“ bezeichnet hat, klingt fatalistisch, wenn er darüber spricht, er glaubt nicht mehr an politische Lösungen. „Die einzige Chance, die wir haben, ist ein philosophisches, ein emotionales Herangehen. Nur, wenn die Menschen berührt sind, kann etwas in ihnen in Gang kommen“, meint er. Er will es einfach halten, sagt er: „Meine Bilder sollen einfach eine Liebeserklärung an den Gletscher sein.“
Doch vielleicht ist die Liebeserklärung nur ein Teil des Ganzen: Nehmen wir die Schönheit, die er in seinen Bildern zeigt, als Ausdruck seiner Liebe zum Gletscher, dann könnte die Unermesslichkeit für sein Staunen stehen. Die Verletzlichkeit des Gletschers hingegen, die er in finsteren, trostlosen und dabei besonders ästhetischen Fotografien darstellt, strahlt Trauer aus, Wut – oder auch Kapitulation. Und diese Bilder sind eindeutig die kraftvollsten.
David Carlier ist ein Schweizer Fotograf, Filmemacher und Abenteurer. Seit drei Jahren hält er die Gletscher seiner Heimat für die Nachwelt fest – zu Fuss, mit dem Gleitschirm und mit seinem kleinen Ecolight-Flugzeug. In seinem Projekt „Giants in Motion“ – „Giganten in Bewegung“ möchte er ihre Schönheit, ihre Unermesslichkeit und ihre Verletzlichkeit zeigen.
2019 stand der Grosse Aletschgletscher in Davids Fokus, den er in eindrücklichen, abstrakten und kraftvollen Aufnahmen porträtiert hat. Einige dieser Bilder präsentiert der Outdoor-Fotograf von 2. Juli bis Oktober 2020 in der mystischen Atmosphäre des Tälligrat-Tunnels. Der ein Kilometer lange Stollen liegt auf dem Wanderweg von der Fiescheralp in die Märjela zum Gletscherrand.
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