Als die Welt bis 2020 noch ein Dorf war
- Mai 10, 2020
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Corona verändert die Weltwirtschaft grundlegend. Wird man in zehn Jahren feststellen, dass der Luftverkehr, wie wir ihn bislang kennen, nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems war? Eine Rückwärts-Prognose der Frankfurt University of Applied Sciences.
Bei diesem Text handelt es sich um eine sogenannte „Regnose“, eine Visionsmethode, die auf den Zukunftsforscher Matthias Horx zurückgeht. Im Gegensatz zur „Prognose“ besteht die Idee einer Rückwärts-Prognose darin, nicht in die Zukunft zu schauen, sondern von der Zukunft zurück ins Heute. Konkret geht es um einen Blick aus dem Jahr 2030 – zurück auf die Entwicklung des Luftverkehrs nach der Corona-Krise.
Zehn Jahren nach Corona
Im Jahr 2020 wurde aus einem dystopischen Szenario für die Luftverkehrsbranche tägliche Realität. Aus heutiger Sicht wirkt es geradezu abenteuerlich naiv, dass die Auswirkungen einer Pandemie die Vorstellungskraft der führenden Airline-Manager der Welt noch bis in den Februar 2020 um ein Vielfaches überstieg – und die Branche weitgehend unvorbereitet in die größte Krise ihrer Geschichte schlitterte.
Gerade einmal zehn Jahre ist es also her, dass die Konstitution der Weltwirtschaft in ihren Grundfesten erschüttert wurde und viele eingeübte Denkmuster sich radikal änderten.
Senioren-Kreuzfahrt durch das Südchinesische Meer? Für 19,99 Euro über das Wochenende von Hamburg nach Rom fliegen? Flughäfen mit internationalen Verbindungen im Hunsrück, in Weeze oder in Memmingen? Über hundert Bestellungen für ein Flugzeug namens „Boeing 737 Max“ von einer Airline namens „Norwegian“? Bis zu 25 tägliche Flüge auf der Strecke Frankfurt – Berlin, hin und zurück jeweils im Stundentakt? Mehrmals in der Woche dienstlich am Morgen in eine Stadt verreisen und abends wieder nach Hause zurückkehren? Menschen, die fliegen, um zu fliegen, um Meilen für ihren Vielfliegerstatus zu sammeln?
Was heute unrealistisch, überzogen oder absurd klingen mag, spiegelt die Realität und gesellschaftlich akzeptierte Normalität des Jahres 2019 wider.
Auch dass die großen europäischen und nordamerikanischen Airlines im vorangegangenen Jahrzehnt lautstark die staatliche Unterstützung für Fluggesellschaften aus dem Nahen Osten kritisierten, wirkt heute grotesk, ist es doch gerade einmal drei Jahre her, dass auch die letzten im Zuge der Corona-Krise verstaatlichten Unternehmen wieder mehrheitlich privat wurden.
Ganz zu schweigen davon, dass ohne milliardenschwere Staatskredite keine einzige Airline das Jahr 2020 überlebt hätte und sich die Staaten bei der Reprivatisierung große Anteile sicherten. Sie erkannten, dass sie aus volkswirtschaftlichen und klimaschutzpolitischen Erwägungen weiterhin Einfluss auf die Luftverkehrsbranche ausüben müssten und sie nicht vollständig dem freien Spiel der Markt-Kräfte überlassen könnten.
Überkapazitäten, geringste Margen und Insolvenzwellen hatten schon in den Jahren vor 2019 dazu geführt, dass Flugtickets teilweise nicht mehr das Papier wert waren, auf das sie (aus-)gedruckt wurden.
Millionen Kunden verloren Urlaubstage, für die sie hart gespart hatten. Ein Szenario, das sich seit 2020 auch aus wahlkampftaktischen Gründen nicht mehr wiederholte. Flugreisen sind seitdem – wie auch Pauschalreisen zuvor – bei Insolvenzen geschützt, die Konsolidierung wurde multilateral organisiert. Die wenigen verbliebenen Airlines in Europa sind hart verhandelte Produkte nationaler Interessen. Frei von politischem Einfluss ist keine Fluggesellschaft mehr.
Liberalisierung zurückgedreht
Die Liberalisierung des Luftverkehrs wurde selbst im Kernland des Kapitalismus, in den Vereinigten Staaten, wieder ein Stück weit zurückgedreht. Durch Subventionen werden viele regional wichtige Strecken am Leben erhalten, Flüge müssen wieder mehr als Busfahrten kosten. Dem „Race to the Bottom“ wurde zumindest im Luftverkehr durch politische Regulierung ein Ende gesetzt.
Fliegen hat heute wieder einen Wert. Von „Überkapazitäten“ sprach man im Jahr 2019. Ein Wort, das sich im Vokabular der Airline-Manager heute nicht mehr findet. Es ist nicht so, als hätte die Demokratisierung des Fliegens keinen Bestand mehr. Auf den immer noch rot lackierten Flugzeugen der inzwischen halbstaatlichen malaysischen Nationalairline Air Asia steht immer noch „Now Everyone Can Fly“. Es kann immer noch jeder, aber viele möchten nicht mehr oder nur noch ausnahmsweise.
Wobei im Gegensatz zu den saturierten Luftverkehrsmärkten der westlichen Hemisphäre im asiatisch-pazifischen Raum aufgrund des Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums noch die Zahl der Flüge und Flugverbindungen ansteigt. In Europa hat man sich längst von der Maxime der BIP-Steigerung um jeden Preis, von maximalem Outsourcing wichtiger Industriezweige verabschiedet.
Innerdeutsche Flugreisen haben schon unmittelbar nach dem Höhepunkt der Pandemie 2020 einen massiven Nachfragerückgang verzeichnet, sie werden heute höchstens noch im Rahmen einer Umsteigeverbindung genutzt. Ultrakurzstrecken wie Frankfurt-Stuttgart oder Nürnberg-München werden heute selbstverständlich nicht mehr mit dem Flugzeug angeboten.
Stattdessen erlebten wir in dieser Dekade eine Renaissance des Schienenverkehrs, selbst im Autoland USA wurden erste Hochgeschwindigkeitsstrecken erfolgreich eröffnet. Videokonferenzsysteme und „Home Office“ gehören dank der während der Pandemie gesammelten häufig ersten Erfahrungen zum Standardrepertoire jeder noch so kleinen Firma. Durch den Verzicht auf Dienstreisen und Büroquadratmeter konnten alle Unternehmen signifikante Effizienzsteigerungen und Kosteneinsparungen erreichen. Standortübergreifende Veranstaltungen finden häufig nur noch online statt.
Kaum noch Geschäftsreisen mit dem Flugzeug
Viele geschäftliche Reisen sind aber auch schon allein deshalb nicht mehr notwendig, da sich die globale Wirtschaftsstruktur und ihre Lieferketten grundlegend verändert haben. Seit 2019 hat sich der Trend zur Deglobalisierung mit jedem Jahr verstärkt. Niemals wieder waren Volkswirtschaften so vernetzt wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts, niemals wieder erschien die Welt so klein, jedes Land so schnell erreichbar, flog man zum bloßen „Work and Travel“ ans andere Ende der Welt.
Waren es im Jahr 2020 vor allem Pharma- und Medizintechnikprodukte, deren Herstellung auf politischen Druck wieder vom indischen Subkontinent nach Deutschland und Europa zurückkehrten, haben sich Phänomene wie Just-in-Time-Produktion eher schleichend verabschiedet. Risikodiversifikation war das Gebot der Stunde; Produktionsstandorte wurden über verschiedene Weltregionen verteilt statt nur in einzelnen Niedriglohnländern konzentriert, Abhängigkeiten verringert.
Die Digitalisierung senkte die Relevanz der Lohnkosten bei Standortentscheidungen. Der Luftfrachtverkehr und E-Commerce erlebten vor allem durch diese komplexen Verlagerungsprozesse in den ersten Jahren nach der Pandemie ungeahnte Höhen.
Heute ist der weit überwiegende Teil der Flugreisen privat motiviert. Der Kontakt zur Familie und Bekannten wurde nach den Kontaktsperren deutlich mehr geschätzt als zuvor. Vor allem junge Menschen reisen heute ins Ausland, während sich ältere Generationen viel stärker als zuvor mit den Risiken einer Reise, den hygienischen und medizinischen Bedingungen vor Ort auseinandersetzen.
Massentourismus ist gesellschaftlich geächtet
So erlebte der „Urlaub vor der Haustür“ im vergangenen Jahrzehnt einen niemals für möglichen gehaltenen Boom. Es ist davon auszugehen, dass dies durch die globale Erwärmung auch über 2030 hinaus so bleibt, muss man doch für eine „Schönwettergarantie“ mit Temperaturen über 30 Grad im Sommer nicht mehr ans Mittelmeer reisen.
Dennoch hat der Klimaschutz große Fortschritte erreicht, erstmals seit Jahrzehnten ist der Ausstoß an Kohlenstoffdioxid durch die Menschheit zurückgegangen. In vielen Regionen Asiens erfahren die Menschen erstmals, wie ihre Städte ohne Smog aussehen.
Die Nachfrage nach Flugreisen in die Volksrepublik China hat sich seit 2020 nie wieder erholt. Da die Entstehung von Corona für Milliarden Menschen gedanklich mit mangelnden Hygienestandards in der chinesischen Lebensmittelindustrie verknüpft bleibt, gibt es beinahe keinen Tourismus mehr von Europa nach China und auf Anweisung der KP auch kaum noch in die andere Richtung. Das Land hat durch weltweite protektionistische Maßnahmen und die Renationalisierung der Produktion ebenso seinen Status als „Werkbank der Welt“ verloren.
Das „Hub-and-Spoke“-Modell wird zwar weiterhin mit Erfolg angewandt, das Destinationsportfolio, die Klassendifferenzierung im Bordprodukt und die Preisgestaltung haben sich jedoch durch den weitgehenden Wegfall von Geschäftsreisen grundlegend verändert.
Die Legacy Carrier mussten ihr Geschäftsmodell nachhaltig verändern. Low-Cost-Carrier sind weiterhin aktiv, mussten ihre großen Expansionspläne jedoch ad acta legen. Die Nachfrage ließ dies nicht mehr zu, Massentourismus mit dem Flugzeug ist in Zeiten bewussteren Konsums heute gesellschaftlich geächtet. Städte wie Venedig und Amsterdam, die 2019 noch unter „Overtourism“ ächzten, wünschen sich heute, dass Tourismus überhaupt wieder zu einem relevanten Wirtschaftszweig werden könnte und Arbeitsplätze schafft.
Neuer Trend zu kleineren Flugzeugen
Die Flugzeugbauer haben sich inzwischen langsam von den Auswirkungen der Pandemie erholt, da viele Flotten weltweit an ihre altersbedingte Einsatzgrenze kommen. Doch die massenweise Ausmusterung von Flugzeugen 2020, die Streichung von Bestellungen und Optionen, das massive Überangebot wirkt immer noch nach.
Die meisten Fluggesellschaften konnten sich kostenintensive Neuinvestitionen schlichtweg nicht leisten. Das Zeitalter von A380 und „Jumbojet“ ging schneller vorbei als man es sich noch wenige Jahre zuvor vorstellen konnte. Auch die Boeing-Modelle 757 und 767 konnten durch die ausreichende Verfügbarkeit wirtschaftlicherer Maschinen schnell durch 787 und Airbus A330 Neo ersetzt werden.
Unter den Kurzstreckenflugzeugen ging besonders der Airbus A220 als Gewinner hervor, dieser erwies sich als äußerst sparsam und konnte mit seiner recht geringen Sitzplatzkapazität sehr schnell wirtschaftlich betrieben werden. Auch die Airbus A320 Neo wiesen eine starke Wirtschaftlichkeit auf und konnten auf Metropolrouten weiterhin sinnvoll eingesetzt werden, im starken Gegensatz zu den Vorgängermodellen der A320-Familie.
Die Boeing 737 Max wurde niemals wieder von einer Fluggesellschaft eingesetzt und die Produktion musste von Boeing mit Unterstützung des wiedergewählten Präsidenten Trump vollständig abgeschrieben werden.
Zehn Jahre danach muss man feststellen, dass der Luftverkehr in seiner damaligen Form 2020 eher Teil des Problems als Teil der Lösung war. Die Globalisierung und die Masse an interkontinentalen Flügen machten aus einer Epidemie erst eine Pandemie. Aus diesem Grund konnte der Strukturwandel im Luftverkehr, die Rückbesinnung auf das „Fliegen“ als Besonderes statt Alltägliches viele positive Entwicklungen auslösen.
Die Arbeitsplätze, die in der Luftfahrtindustrie erhalten werden konnten, sind heute besser bezahlt denn je. Ein Jahrzehnt nach der Pandemie kann man konstatieren: Die Menschen gehen weniger Risiko ein, schätzen Dinge wert, die sie vorher für selbstverständlich gehalten haben, haben ein Gefühl für Distanzen zurückerlangt. Die Welt wurde wieder größer.
Über die Autoren
Elias Agel, Tom Lüttkemöller, Leonardo Esmaieli und Roman Link studieren Luftverkehrsmanagement an der Frankfurt University of Applied Sciences in Kooperation mit der Deutschen Lufthansa AG. Der Beitrag ist das Ergebnis einer Semesteraufgabe im Rahmen der Vorlesung „Management des Luftraums“ bei Frau Prof. Dr. Kirstin Zimmer.
Quelle: https://www.airliners.de/als-welt-2020-dorf-gastbeitrag
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